Sie saß auf ihrer Gartenbank und stopfte ein Loch in einer weißen Tischdecke.
“Hallo Frau Dachboden”, sagte ich leise, nachdem ich ihr schon eine Weile bei der Arbeit zugesehen hatte.
„Guten Tag Lili.“
Sie nickte nur leicht mit dem Kopf und blickte nicht auf. Ihr Haar hatte sie zu einem Dutt zusammengebunden.
Trotz des Alters wirkte es noch immer dunkel und dick. Mit einem ausladenden Busen und einem spitzen Mund griff sie nach einer winzigen Tasse Kaffee, den sie mit viel Sahne und Zucker trank.
Dann nahm sie mit ihrer Rechten eine Nadel, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Mit der stach und zerrte sie an den Fäden herum, als ginge es darum, die Saiten von einem Violoncello zu stimmen, damit das C nicht wie ein G und das d nicht wie ein a klingt.
Dabei spielte Dolores Dachboden gar kein Instrument. Sie war auch nicht verheiratet. Sie war schon immer hier und gehörte einfach hierher, wie das Wasser im Regenbach, der hinter ihrem Garten am Rande der Pflaumenwiese vor sich hin plätscherte.
Ich setzte mich neben sie auf die Bank und zupfte mein Kleid zurecht. So saß ich eine Weile da. Es sah nicht so aus, als hätte Frau Dachboden die Absicht, sich mit mir zu unterhalten. Irgendwann machte ich dann „Hm“.
„Hm?“ erwiderte sie nur.
„Hm“, sagte ich noch einmal. „Ich möchte heute gern die Welt erkunden, denn heute ist der richtige Tag dazu. Aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.”
“Aha”, sagte sie nur und stopfte weiter.
Ich folgte mit meinen Augen den Bewegungen ihrer Hand und sprach einfach los.
“Wohin soll ich gehen? In Richtung Süden, die Straße lang? Wohin führt die? Ich könnte auch dem Regenbach hinterherlaufen. Vielleicht finde ich ja das Nest eines Zaunkönigs? Oder wäre es besser, runter zum See zu laufen und zu warten, bis die Wellen etwas an den Strand gespült haben? Die Welt ist doch überall! Und ob es im Süden oder unten am See oder sonst irgendwo etwas zu entdecken gibt, das kann doch niemand vorher wissen!“
„Na du bist mir ja ein ganz schöner Luftikus, ” antwortete sie und führte mit der Nadel die Querfäden abwechselnd über und unter die Längsfäden hindurch.
“Leider kann ich dir da auch nicht weiter helfen. Ich bin selbst noch nicht so weit in der Welt herum gekommen. Ich bin schon so lange hier und kenne nur den Garten, den Bäcker, die Poststelle und die große Wiese, auf der die Ziegen von Herrn Grafe stehen. Aber ja, irgendetwas wird es wohl an all diesen Orten geben müssen. Und wer weiß, was es da zu entdecken gibt. Vermutlich nichts. Da bleibe ich doch lieber hier bei meiner Katze!“
Ich verdrehte heimlich die Augen. Die alte Dame versteht überhaupt nichts.
„Wenn man aus Taubenheim hinaus geht,” erklärte ich ihr dann, “da kommt zuerst ein Wald. Und nach dem Wald, da kommt ein See. Und hinter dem See, da liegt Heiligendorf, wo meine Oma wohnt, die herrliche Pfannkuchen bäckt.“
„Oho“, sagte sie da. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass die Welt sooo groß ist. Aber leider habe ich ja keine Zeit, mir das anzuschauen. Du siehst ja selbst, was hier los ist. So eine Tischdecke flickt sich nicht von selbst. Ständig muss ich etwas stopfen. Oder der Katze das Futter hinstellen. Und den alten Koffer ganz hinten in der Kammer, den wollte ich mir schon lange mal vornehmen. Wer weiß, was da alles zum Vorschein kommt.“
Ich hatte überhaupt keine Chance. Frau Dachboden ist einfach völlig verstaubt. Da konnte man pusten, wie man wollte. Das altmodische Ding war unter einer Staubschicht begraben und widersetzte sich jedem Bemühen. Niemand wusste, was es mal war, bevor man es hier eingelagert hatte. Aber jetzt, als es einmal so war, wie es war, da war es wahrscheinlich zu spät. Oder nicht?
Angenommen, Frau Dachboden käme plötzlich auf die Idee, die Welt zu erkunden. Nicht dass sie solche Ideen hätte. Aber falls doch, dann bräuchte sie doch nur ein kleines Stück aus Taubenheim hinaus zu gehen, vielleicht höchstens bis nach Heiligendorf! Wie viel Neues war für sie allein bis dorthin schon zu entdecken!
Wer die Welt entdecken will, der schaut sich Dinge an, die er noch nie gesehen hat. Und das hieße doch wohl, dass ich einfach zum Horizont gehen könnte, um nachzuschauen, was sich dahinter befand. Denn hinter dem Horizont, da war ich noch nie. Ganz genau so, wie Frau Dachboden noch nie in Heiligendorf war.
Jetzt wusste ich, wie ich es anstellen kann. Ich stand auf und verabschiedete mich.
„Auf Wiedersehen Frau Dachboden!“
Sie nickte nur und hob dabei ihre Augenbrauen ein klein wenig an, gerade so, dass ich es noch bemerkte. Ob das von einem Zweifel herrührte, den sie in Bezug auf meine Idee hegte? Oder kam das nur von der Konzentration her, als sie die Nadel zum Verstechen in ein frisches Stück Tischtuch stach?
Schwer zu sagen. Solche Grübeleien bringen nichts. Ich machte mich auf den Weg. Im Grunde ist es ja egal, wohin ich gehe. Der Horizont ist überall.
Ich durchquerte die große Wiese, die sich an das Haus und den Garten von Frau Dachboden anschloss. Dann wanderte ich durch den Wald, ging am See vorbei und grüßte von Weitem meine Oma in Heiligendorf.
Und dann stand ich da, am Horizont. Da sah ich die Welt, die ich noch nicht kannte. Leichte Hügel mit Wiesen. Wälder. Seen. Und kleine Orte, die genau so aussahen wie Taubenheim oder Heiligendorf, wo die Pfannkuchenoma wohnte.
Ich blicke auf die Dinge, die ich noch nie gesehen hatte. Und doch. Was für eine Enttäuschung! So sehr ich auch blickte, ich konnte nirgendwo etwas Neues entdecken.
Ich war mir so sicher, gleich hier in ein großes Abenteuer verwickelt zu werden. Und nun das! Wenn man auszog, um die Welt zu entdecken, dann möchte man doch nicht wieder nur Himbeersträucher, Holunderhecken und noch mehr Froschtümpel sehen!
Enttäuscht trottete ich über den Horizont hinweg und ärgerte mich über die Himbeerdornen, die mir in die Waden piksten.
Was hatte ich denn erwartet? Die Welt kann doch hinter dem Horizont nicht plötzlich zu Ende sein! Und was soll dann schon kommen? Wenn ich jetzt auf Elefanten oder Pinguine gestoßen wäre, dann wäre das doch auch sehr seltsam gewesen. Oder etwa nicht? Und sicher hätte mir die Großmutter schon lange davon erzählt.
Grübelnd ging ich weiter und gelangte erst nach Stockwen, dann nach Priesenitz und schließlich nach Meckenbusch.
In Stockwen traf ich einen alten Mann, der sich mit einer Hand an einem Zaun festhielt, während er sich mit der anderen an einen Hackenstiel klammerte. Er versuchte, das Unkraut zwischen den Stachelbeersträuchern zu jäten. Ob er denn wüsste, was nach dem Horizont käme?
“Aber ja,” war seine Antwort. Er kenne ein paar Leute in Priesenitz, das gleich hinter dem Berg lag. Der alte Hagenbauer dort sei dem Suff verfallen und wolle jetzt seine Felder und möglicherweise auch seine Frau verkaufen. So redete der jedenfalls.
Ähnlich erging es mir auch in Priesenitz. Die Leute dort hatten Verwandte in Meckenbusch, auf das man traf, wenn man den Wald durchquerte. Die Müllerin da bekäme bald ihr nächstes Kind. Das wie vielte es war, wusste niemand. Vielleicht nicht mal sie selber.
Und so ging es immer weiter und weiter. Aber niemand konnte mir sagen, wie lange das noch so gehen würde. Vielleicht ging das noch endlos so weiter!
Es wurde langsam Abend, und langsam verlor ich die Lust daran, die Welt zu entdecken. Ich setzte mich auf einen Stein und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Was hatte ich mir bloß gedacht? Überall dasselbe! Ich schaute mich um. Himbeeren. Holunder. Birken. Ein Pilz mit braunem Hut. Oder nein, mit gelb-braunem Hut.
Und da bemerkte ich es. Seine Färbung war weniger kräftig, so als wenn er zu lange in der Sonne gestanden hätte. Aber auch der Wald, die Wiesen und die Seen und selbst die Himbeersträucher hatten sich ein wenig verändert.
Die Seen, an denen ich jetzt vorbei kam, wirkten irgendwie dünner. Nicht ‘dünner’, so wie wir Strichmenschen dünn waren. Eher wie ‘weniger blau’, oder ‘weniger dicht’, so als ob man beim Anfassen erst einmal durch Luft greifen muss, bevor man das Wasser berühren kann.
In den Wäldern standen die Bäume nicht mehr so dicht wie zu Hause. Und sie hatten dünnere Äste.
Auf den Wiesen irrten nur noch wenige Käfer umher und nur hier und da gab es eine Ameise. Auch die Zaunkönige schwiegen, wenn sie überhaupt noch in den Büschen saßen, welche die Landschaft spärlich durchzogen.
Die Welt, die mich umgab, fühlte sich auf einmal ganz anders an. Es gab zwar noch immer keine Elefanten oder Pinguine, das nicht. Aber es war auch nicht mehr so, wie zuhause in Taubenheim oder wie bei Oma in Heiligendorf.
Das spürte ich jetzt ganz deutlich. Jedes Mal, wenn ich einen Horizont erreichte und auf ein neues Stück Welt traf, verblasste die Landschaft ein klein wenig mehr.
Zuerst hatte ich das gar nicht bemerkt, aber jetzt, als ich so auf dem Stein saß und den blassen Pilz und all die anderen Dinge betrachtete, da sah ich es ganz deutlich. Die Welt um mich herum wurde immer weniger, je weiter ich lief. So als ob man ein Bonbon ganz langsam in Wasser auflösen würde.
Ich blickte besorgt an mir herunter. War ich etwa auch dünner geworden? Ich sah meine zwei Beine wie zwei knorrige Stängel senkrecht aus dem Boden staksen. So, wie immer. Mir fiel wieder ein, dass ich ja nur ein Strich war. Und ein Strich ist ja schon dünn genug. Erleichtert atmete ich auf.
Es ging jetzt wieder bergan. Über eine Wiese, auf der die Halme so weit auseinander standen, dass ich sie beim Laufen nicht einmal berührte.
Ich stieg den Hügel hinauf, blickte erneut über den Horizont, und dann sah ich es. Dort, wo es nichts mehr gab, da war die Welt zu Ende.
Ich durchquerte jetzt schnell die immer durchsichtiger werdende Landschaft. Es gab keine Bäche mehr, über die ich hüpfen musste. Auch die Himbeersträucher waren verschwunden. Nach einer Weile war überhaupt nichts mehr da. Es ging einfach nicht mehr weiter.
Wohin hätte es auch gehen sollen? Ich stand jetzt direkt vor dem Ende der Welt. Ich konnte es sogar mit meiner Hand berühren. Es kam mir vor, als fasste ich in Götterspeise. Aber so richtig sicher war ich mir da nicht. Es war schon eigenartig. Es gab ja nichts mehr, das ich mit meinen Fingern ertasten konnte. Hindurch greifen konnte ich auch nicht. Hier war tatsächlich Schluss. Dahinter war nichts mehr.
Ich blickte mich um und sah in den Himmel. Es schien, als erstreckte sich das Ende der Welt in alle Richtungen. Es war überwältigend. Hinter mir blinkten die Sterne. Je weiter ich blickte, desto mehr wurden es. Sie waren wie Salzkristalle am Himmel verstreut. Als ob jemand eine Gewürzmühle geöffnet und dann absichtlich umgeworfen hätte.
Da ganz hinten, am Munde der Mühle, versammelten sich die glitzernden Kristalle zu großen Haufen. Je weiter der Himmel auf mich zu kam, desto spärlicher wurden sie.
Unregelmäßig verbreiteten sie sich in mehreren großen Schwaden über das Firmament. Dann wurden es immer weniger, bis man nur noch die sehen konnte, die es am weitesten geschafft hatten.
Und schließlich verschwanden auch sie. Direkt über mir sah die Himmelsplatte so blank geputzt aus, als ob kein Malheur passiert wäre. Kein Mond. Kein Stern. Kein Staubkorn. Kein Garnichts.
Und hier am Ende stand ich jetzt vor dem Nichts. Ich drehte mich um und statt zurück zu gehen, strich ich noch eine Weile am Ende der Welt entlang, so als ob ich eine Mauer ablief und versuchen würde, mit meinem Finger einen langen Strich im Nichts zu ziehen.
Immer weiter lief ich an dieser nicht vorhandenen Mauer entlang. Und weiter.
Ich fragte mich, als ich versuchte, mit meinem Finger ins Nichts hineinzustochern, ob es hinter dem Ende der Welt nicht doch noch irgendetwas zu entdecken gäbe. Es kann doch nicht sein, dass hier wirklich einfach so Schluss ist!
Der Gedanke an einen Ort, hinter dem sich nichts mehr befindet, löste in mir ein Kribbeln aus, das sich sachte von meinem Nacken aus den Weg über meine Kopfhaut bahnte.
Jeder Schritt, den ich ging, verstärkte es. Erst der Kopf. Dann die Brust. Der Rücken. Die Beine. Irgendwann durchflutete es meinen ganzen Körper.
Ich wusste nicht mehr, wo meine Arme und Beine waren. Ich konnte sie sehen, ja, aber wenn ich mich berührte, dann spürte ich das nicht mehr. Das Kribbeln war einfach zu überwältigend.
Ich spürte auch meine Umgebung nicht mehr. Ob meine Füße noch den Boden berührten, konnte ich nicht mehr beurteilen. Da war nichts. Mein Körper war komplett mit sich selbst beschäftigt.
Vor mir und um mich herum war überhaupt nichts mehr zu sehen. Ich roch auch nichts. Hörte nichts. Schmeckte nichts. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Ein weißes Rauschen.
Kurz bevor ich mich übergeben musste, ließ das Kribbeln wieder nach. Ganz allmählich. Wie wenn sich der Nebel langsam lichtet.
Nur fing es hier nicht am Erdboden an. Es gab Konturen. Vor mir. Was es war, wusste ich nicht. Aber da war etwas. Eine hauchzarte Ahnung von einem Ding. Oder einer Bewegung.
Ich ging langsam weiter und war froh, dass die Übelkeit verschwand. Noch ein paar Schritte weiter schälte sich aus der durchsichtigen Kontur irgendwann eine menschliche Gestalt heraus. Es sah aus als stünde da jemand hinter hundert verstaubten Spinnweben.
Ich hielt die Luft an. Wer war das? Wer stand da? Noch langsamer ging ich weiter. Wer weiß schon, was einem am Ende der Welt so alles begegnen kann. Versuchsweise setzte ich ein Bein vor. Dann zog ich das, was daran befestigt war, langsam nach. Dann blieb ich stehen.
Jetzt bewegte sich die Figur. Auf mich zu. Ich hörte ein Knarren, wie von alten Dielen. Und dann, einen Atemzug später, stand sie direkt vor mir. Dolores Dachboden hielt eine ordentlich gefaltete Tischdecke in den Händen und strahlte mich an.
“Ich habe es mir doch noch anders überlegt und die Katze zu Herrn Grafe gebracht. Ich kann dich, mein liebes Kind, ja nicht so ganz alleine in die weite Welt ziehen lassen. Was einem da alles passieren kann! Und außerdem war ich gerade fertig mit der Tischdecke. Hier ist sie. Die war für dich. Da kannst du bei dir im Haus auch mal Gäste empfangen und hast dann immer etwas Ordentliches auf dem Tisch.”
Geistesabwesend fasste ich mir ans Ohrläppchen und kniff hinein. War das jetzt wirklich real? Es kribbelte jetzt nichts mehr und ich verspürte einen leichten Schmerz. Vielleicht schon.
Ich holte Luft und sagte: “Vielen Dank, Frau Dachboden. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gerne ich jetzt Gäste hätte und bei mir zu Hause wäre. Wie gern würde ich mit allen durcheinander reden. Die Welt hier ist leer. Erst gab es nichts Neues, und dann gab es gar nichts mehr. Und in Taubenheim. da summen die Bienen.”