Ich befand mich im ‘Laboratorium’. Hier hatte er seine Mikroskope aufgestellt. Das waren messingfarbene Instrumente. Am unteren Ende befand sich ein kleines Tischchen, auf das man etwas drauflegen konnte. Die Probe. Darüber befand sich eine bogenförmige Halterung, an der ein Tubus befestigt war, der über dem Tischchen begann und dann nach oben hin immer dünner wurde. Als hätte man das Fernrohr, mit dem Captain Flint am Ufer der Schatzinsel übers Meer schaute, an den Arm einer antiken Tischlampe geschraubt.
An einem dieser Instrumente stand Ferdinand Kaltenthal jetzt. Angestrengt blickte er hinein. Seine ausgestreckten Arme hielten seine hagere Gestalt über dem Okular.
Er trug wie immer ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege um den Hals. Auch hier bei seiner Arbeit. Dazu dunkle Stoffhosen und Sandalen, durch die man seine gemusterten Socken sah.
„Onkelchen!“, rief ich vorsichtig.
Nichts.
„Onkelchen!“ Nun etwas lauter.
„Moment Lili. Warte mal.“
Ferdinand beugte sich über einen Notizblock und schrieb etwas hinein. Dann schaute er wieder in das Okular. Nach einer Weile drehte er sich um und sah mich in der Tür stehen.
„Hallo Lili, was machst du denn hier?“
„Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren!“
„Zu welchem Geburtstag?“
„Na zu deinem! Heute ist der 5. Dezember. Du hast Geburtstag, Professor Onkelchen von Kalthenthal.“
„Na so was! Haben wir denn jetzt Dezember?“
Ferdinand lächelte mich an und dann nahm er mich in den Arm.
„Schön, dass du da bist. Ich habe eben eine große Entdeckung gemacht.“
„Die machst du doch immer. Willst du nicht wissen, welches Geschenk ich für dich habe?“
„Hm. Du willst mir etwas schenken? Ach so, du meinst zum Geburtstag? Was hast du denn? Sag schon!“
Ich griff in meine Jackentasche und zog dann die Packung Kaugummi heraus, die ich mitgebracht hatte.
„Zum Abgewöhnen!“
„Na du bist mir ja eine. Ich glaube aber nicht, dass das reicht!“
Ferdinand lachte. Er wohnte hier ganz allein in seinem Schloss. Aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Er sagte immer, dass er Ruhe brauche für seine Studien. Ständig müsse er nachdenken.
Er sei ein Forscher, der das ganz, ganz winzig Kleine, das Unsichtbare untersuchte. Die Dinge, die er hier erforschte, hatte noch nie jemand so gesehen wie er. Außer vielleicht ich.
Manchmal besuchte ich Ferdinand in seinem Schloss. Dann schaute ich ihm über die Schulter, oder schlenderte in der Bibliothek herum und schaute mir die dicken Bände dort an. Vieles davon verstand ich nicht.
Eines Tages jedoch entdeckte ich die Sternentagebücher — ganz in der unteren Ecke der großen Bibliothek. Stundenlang saß ich auf dem Fußboden und konnte mich gar nicht satt lesen an den Abenteuern von Ijon Tichy.
Onkel meinte zwar, das seien keine “richtigen” Bücher, aber ich war da anderer Meinung. Und was soll das überhaupt heißen, dass manche Bücher “richtig” sind und andere nicht? Am Ende entscheidet das doch der Leser, also ich. Und nicht Ferdinand!
„Was hast du denn heute entdeckt?“
Ferdinand ging um den schweren Eichentisch mit den vielen großen und kleinen Instrumenten herum und dann zu einer grünen Wandtafel, die sich an der gegenüberliegenden Seite der großen Fenster befand. Sie war immer mit vielen Zahlen und Buchstaben vollgeschrieben.
Er wischte die Kreide ab und winkte mich heran.
„Pass mal auf Lili,“ fing er an, „stell dir vor, wir haben ein winzig kleines Ding. Zum Beispiel eine Laus. Wenn wir die nehmen und unter ein Mikroskop legen, dann sehen wir, was alles in einer kleinen Laus drin ist. Das ist eine ganze Menge und sieht sehr hübsch aus. Wenn wir nun ein noch größeres Mikroskop nehmen, dann können wir uns ansehen, woraus das besteht, was in der Laus drin ist. Und so können wir das immer weiter treiben.“
Während er sprach, malte Ferdinand einen großen Kreis an die Tafel, vor der wir beide jetzt standen. Das war wohl die Laus, von der er sprach. In diesen Kreis malte er kleinere Kreise hinein. Und in diese kleineren Kreise noch kleinere. Dann hatten nur noch Punkte Platz.
„Auf jeden Fall,“ so sprach er weiter, „kommen wir dann immer und immer wieder zu noch kleineren Teilchen, oder aber,“ und jetzt machte er eine kleine Pause, „wir kommen irgendwann zu einem Ende.“
Ferdinand sah mich erwartungsvoll an. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und rang mich zu einem „Und?“ durch.
„Und es ist doch klar, dass es nicht bis ins Unendliche immer noch kleinere Teilchen geben kann! Das geht nicht. Das ist nicht möglich. Es folgt also …“ und jetzt machte er wieder eine Pause.
„Was?“
Ich betrachtete die Punkte an der Tafel und dachte an ein Gebirge aus Kreide.
„Na, es folgt, dass letzten Endes alles aus Nichts besteht. Die Tische. Die Stühle. Ich. Du. Das Schloss. Die ganze Welt. Dass es nichts davon wirklich gibt!“
Ich schaute meinen Onkel mit großen Augen an.
„Wie meinst du das, es gibt uns gar nicht?“
„Na ich meine, dass wir gar nicht existieren! Das geht nämlich nicht.“
„Aber du bist doch jetzt hier. Und ich auch!“
„Das stimmt schon Lili. Das ist, wie wir die Welt erfahren. Es scheint dir so, als stünde ich jetzt hier. Und du dort. Aber in Wirklichkeit ist da nichts. Was sollte da auch sein? Das ist gar nicht so schwierig zu verstehen. Wenn du ins Kino gehst und dir einen Film anschaust, dann siehst du doch auch die Landschaft und die Leute, die die Landschaft durchschreiten, sich miteinander unterhalten, lachen, weinen, lieben. All das scheint wirklich da zu sein. Und trotzdem gibt es das gar nicht. Wenn das Licht an geht, ist das alles weg. Puff. Aus und vorbei.“
„Ach Onkelchen, du immer mit deinen Ideen!“
Ich setzte mich auf den schweren Tisch und lachte Ferdinand an.
„Wer sagt denn, dass es so ist? Man kann sich ja vieles ausdenken. Vielleicht sind wir ja in Wahrheit Regenwürmer, die gerade träumen, sie seien Strichmenschen!? Wer weiß schon, wie es wirklich ist?“
„Na na na, liebe Lili. Es stimmt schon, dass wir nicht alles glauben sollten, was sich irgendjemand bloß ausgedacht hat. Aber hier ist es anders. Ich habe wirklich BEWIESEN, dass es so ist. Dass die Welt und alles, was auf ihr herum kraucht, überhaut nicht existiert. Schau doch bitte hier rein und sage mir, was du siehst!“
Ferdinand zeigte auf das große Mikroskop, durch das er so angespannt geschaut hatte, als ich herein kam. Ich ging zu ihm hinüber und zog einen Hocker unter dem Tisch hervor. Darauf stieg ich und schaute von oben in die Linse hinein.
„Irgendetwas Verschwommenes. Schwarz und weiß.“
„Du musst natürlich scharf stellten! Das kleine Rädchen, rechts unten am Tubus.“
Ich griff also nach dem Scharfsteller und drehte daran herum.
„Ah, jetzt. Das sieht aus wie ein fettes, dunkles Rohr. Und an der Seite ragen viele Stacheln heraus.“
„Das ist ein Fliegenbein. Stark vergrößert. Jetzt dreh am linken Rad. Damit kannst du die Probe noch stärker vergrößern.“
Ich drehte. Das Rohr wuchs an und wurde größer. Dann war alles dunkel.
„Dreh weiter!“
Ich drehte weiter. Jetzt wurde es wieder heller. Dann tauchten viele kleine kissenartige Objekte auf. Dunkle Ränder und innen hell.
„Dreh weiter!“
Ich drehte das Rädchen, bis eines der kleinen Kissen die gesamte Sichtfläche ausfüllte. Jetzt sah ich, dass es aus kleinen Kügelchen bestand. Dann ging es nicht mehr weiter. Der Tubus war ganz oben.
„Und jetzt? Was soll das für ein Beweis sein?“
„Naja, das sind die Grenzen der Technik. Du bist jetzt bei ungefähr 130 Nanometern. Das ist zwar schon so winzig, dass du dir das nicht mehr vorstellen kannst, aber weiter kommst du mit so einem Gerät nicht.“
Er zupfte mir ein Haar aus und sagte „Lass uns in den Keller gehen!“
Wir verließen den Raum, durchquerten einige Korridore. Das Schloss war alt und ein wenig unübersichtlich. Wenn man nicht aufpasste, dann landete man im falschen Flügel. Das ist mir schon oft passiert.
Es war auch sonst kein ganz gewöhnliches Schloss. Statt Schlafzimmern gab es Bibliotheken. Statt Tanzsälen Labore. Der Festsaal war das ‘Laboratorium’. Hier standen seine Mikroskope und unzählige andere Apparate.
Über Korridore und Durchgangszimmer kam man von einem Saal in den nächsten. Dann gelangten wir in eines der beiden größeren Treppenhäuser. Hier ging es nach unten. Zwei Etagen. Dann durch eine schwere Tür weiter in den Keller.
Ferdinand knipste das Licht an und ging voraus. Die Gänge waren nur spärlich durch Wandlampen beleuchtet. Jedes Mal, wenn wir an einer vorüber kamen, stand der hagere Schatten von Onkel Ferdinand erst neben mir an der Wand, rannte dann aber schnell nach vorn und überholte den Wissenschaftler genau auf Lampenhöhe. Danach zischte er nach vorne weg. Dann kam ein neuer Schatten von hinten an.
Schließlich standen wir vor einer sehr neu aussehenden Tür.
„Hier kommt jetzt dein Haar rein.“
Ferdinand schloss die Tür auf und machte Licht. Der Raum war sauber und hell. In der Mitte stand ein hoher Tisch aus Metall. Mit einer runden Platte. Im Zentrum dieser Platte gab es ein Loch, das verglast war. Dort hinein legte er mein Haar. Sorgfältig zog Ferdinand eine ebenfalls durchsichtige Klappe darüber, die das Loch von oben abschloss.
Über diesem Tisch hing eine riesige Linse, die in einem Metallrohr hing, das an der Decke angebracht war. In ihrer gebogenen Oberfläche spiegelte sich der Rest des Raums, der viel größer wirkte als er tatsächlich war.
Ferdinand und ich sahen darin aus wie Ameisen, die am Boden herum krochen und nach dem Ausgang suchten.
„So, das war’s. Jetzt müssen wir wieder nach oben.“
Wir gingen jetzt einen anderen Kellergang entlang, der in einer Wendeltreppe mündete, die sich um den metallenen Tubus des riesigen Apparats wand.
„Ab hier wird gezählt. Es sind genau einhundertdreiundachtzig Stufen. Das lässt sich nicht teilen, weil es eine Primzahl ist. Du kannst also nicht in der Mitte stehen bleiben.“
Ich verdrehte nur die Augen, sagte aber nichts. Wieder ging ich Ferdinand hinterher, der für sein Alter ziemlich schnell hinauf ging. Die Wendeltreppe war sehr schmal. An der rechten Seite gab es ein kleines Geländer. Links ging Metall von unten nach oben. Der Tubus.
Jedes mal, wenn Ferdinand unten im Keller eine neue Probe aufgelegt hatte, musste er erst die Treppe erklimmen, damit er diese oben im Okular untersuchen konnte. Das riesige Mikroskop, das vom Keller bis unter das Dach reichte, war sein Meisterwerk. Er hatte jahrelang daran gebaut.
„Einundachtzig, zweiundachzig, dreiundachtzig. Primzahl. Geschafft.“
Ferdinand blieb auf der letzten Stufe stehen und keuchte ein wenig.
„So, hier herein bitte.“
Wir gingen durch eine schwere Rundbogentür mit zwei Flügeln. Das Turmzimmer war ein fensterloser Raum, in dessen Mitte der Tubus knapp über dem Boden endete. In einer extra Halterung war ein weiterer Tubus angebracht, der in der Hauptröhre steckte und mit zwei Rädern links und rechts hoch und runter gedreht werden konnte. Dazwischen war das Okular befestigt, das aussah wie ein abgesägtes Fernrohr, das jemand an das Notventil des Wasserwerks angeklebt hatte.
Ferdinand knipste eine winzige Lampe an, die von einem grünen Tuch abgedeckt wurde. Durch den Stoff kam ein wenig Licht. Gerade so viel, dass man sich im Raum orientieren konnte, ohne irgendwo dagegen zu stoßen.
Dann machte er sich an den Rädern zu schaffen. „Hier kann man die Vergrößerung einstellen.“ erklärte er, während er an den beiden Rädern drehte und durch das Okular schaute. Der obere Tubus fuhr nach unten. Als es nicht weiter ging, winkte er mich heran.
„Komm her und schau!“
Ich stellte mich vor die Apparatur und sah hindurch. In der Mitte ihres Sehfeldes befand sich ein dunkler Streifen.
„Jetzt dreh!“
Ich begann. Langsam schob sich der Tubus wieder nach oben. Der Streifen verbreiterte sich, nahm den ganzen Raum ein und löste sich dann auf. Dann erschien — wieder in der Mitte — ein weiterer dünner Streifen. Auch dieser wurde breiter, je mehr ich an den Rädern drehte.
Und so folgte ein Streifen nach dem anderen. Irgendwann jedoch hörte das auf. Ich drehte noch eine Weile an den Rädchen, aber es passierte nichts mehr. Das Sehfeld blieb weiß. Dabei konnte der Tubus bis zur Decke noch mindestens einen Meter ausfahren.
„Siehst du,“ sagte Ferdinand, „nichts! Irgendwann ist da nichts mehr. Du hast eben dein Haar betrachtet. Dann hast du dessen Bestandteile gesehen. Und dann die Teile der Teile und so weiter. Aber ich hatte ja schon gesagt, dass das nicht endlos so weiter gehen kann. Es gibt keine kleinsten Teile, aus denen alles andere aufgebaut ist. Die müssten ja wieder aus irgendetwas bestehen. Etwas noch Kleinerem. Und so weiter. Wenn man sich die Dinge so stark vergrößert anschaut wie hier, dann sieht man, dass es irgendwann einfach nichts mehr gibt. Das hast du eben gesehen. Und das heißt, dass wir nicht existieren. Dass nichts existiert. Aber das hatte ich ja schon gesagt.“
Ich schaute wieder in das Mikroskop und drehte an den Rädern herum. Das kann doch nicht sein!
„Was sind das hier für Zahlen?“
An dem beweglichen Tubus waren kleine Zahlen angebracht.
„Das sind die Nanomenter. Und dann darunter die Pikometer.“
Ich drehte bis gerade so nichts mehr zu sehen war. Die Anzeige stand jetzt bei 203. Ich fuhr weiter hoch. Jetzt 150. Weiter. 100. Nichts veränderte sich. Hier schien wirklich nichts mehr zu sein. Ich drehte weiter. Angestrengt schaute ich in das Okular.
Dann bei 87 war mir, als ob ein Schatten vorbei gehuscht wäre. Da war doch irgend etwas! Langsam drehte ich zurück. Da wieder. 88. Nichts. Zurück auf 87. Auch nichts. Aber irgendwie war da eine Erscheinung. Ich spürte es.
87,5 Pikometer. Da. Da war es. Ich sah ein Auge. Es stand ungefähr in der Mitte des Sichtfeldes und schaute mich an. Ich schrie leicht auf und wendete mich ab.
Als ich mich beruhigt hatte, schaute ich wieder hinein. Da war tatsächlich ein Auge. Ganz eindeutig. Es blinzelte und bewegte sich leicht. Ich sah jetzt, dass es keine Lider hatte. Und trotzdem blinzelte es. Es veränderte einfach seine Form. Erst war es ungefähr rund, und dann wurde es ruckartig schmal, und dann wieder rund. Ein Blinzeln.
Die Pupille, unter der die Linse saß, war schwarz und undurchdringlich. Dann kam die Iris, die irgendwie türkis schimmerte und von einem unregelmäßigen dunklen Rand umgeben war. Die weiße Lederhaut war von vielen feinen Linien durchzogen.
Das Auge schaute mich an. Ich spürte das. Es sah irgendwie nachdenklich aus. So, als wollte es etwas sagen.
Ich wusste nicht, warum ich das dachte. Ich wusste gar nicht, was ich denken sollte. Wieso gab es hier ein Auge? Dort, wo nichts mehr war? Im Reich des undenkbar Kleinen? Sicher hat das noch nie jemand gesehen. Verwirrt wendete ich mich wieder ab.
„Ich glaube, da ist doch etwas.“, flüsterte ich Ferdinand zu.
Der zog nur seine Augenbrauen hoch und ging zum Okular. Er blickte hinein und zog scharf die Luft durch den Mund.
„Das gibt‘s doch nicht!“ Ferdinand war schockiert und zugleich begeistert.
„Ist ja irre. Wir sehen hier bei einem Linienabstand von 87,5 Pikomentern ein Auge. Es lässt sich nicht vergrößern. Wenn wir den Abstand nur geringfügig verkleinern oder vergrößern, dann ist es nicht mehr da. Das lässt vermuten, dass es keine Ausdehnung hat. Phänomenal.“
Ferdinand ging auf und ab. Hin und wieder schaute er nach, ob es das Auge noch gab, aber es verschwand nicht.
„Was hat das zu bedeuten? Das kann doch gar nicht sein. Ein echtes Auge kann niemals so klein sein. Und es muss irgendeine Ausdehnung haben.“
„Vielleicht sind wir ja in einem Film!?“, schlug ich vor.
Ferdinand schüttelte leicht den Kopf.
„Warte hier,“ sagte er dann. „Ich muss jetzt erst einmal nachdenken.“
Ferdinand verließ hastig das Turmzimmer, stieg die Wendeltreppe hinab und bog dann beim ersten Absatz in einen Gang ein, der zum Rauchzimmer führte.
Das Rauchzimmer hatte er so belassen, wie es ursprünglich war. Die schwere Tür mit den Bändern, die die einzelnen Planken zusammen hielten, war beidseitig mit Malereien verziert. Weinblätter mit Ranken waren darauf dargestellt, vor rotem oder hellblauem Hintergrund.
Die Wände waren mit Holz vertäfelt. Am oberen Rand verlief eine Bordüre mit einer Zickzacklinie und Punkten. Darunter befanden sich ebenfalls Weinblätter mit kreisförmigen Ranken in hell abgesetztem Holz.
Es gab hier zwei Fensternischen, in denen jeweils zwei sich gegenüber stehende Sitzbänke eingelassen waren. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über den Park und das Torhaus, das früher mal zum Schloss gehörte.
Ferdinand zog sich hier hin zurück, wenn er mal nicht weiter wusste. Dann setzte er sich auf eine der Bänke, zündete sich eine Pfeife an und überlegte. Manchmal saß er eine ganze Stunde so da. Und dann ging er zurück in eine Bibliothek, in ein Labor oder schaute durch ein Mikroskop.
So sollte es auch jetzt sein. Er öffnete die metallisch beschlagene Tür mit den Weinblatt-Ornamenten und trat ein. Im Schrank an der Seite lag seine Pfeife und verschiedene Sorten Tabak. Er hatte noch eine halbe Dose Dannemann. Den nahm er sich. Der machte ordentlich Qualm.
Dann setzte er sich auf eine der altertümlichen Bänke am Südfenster und zündete die Pfeife mit einem langen Streichholz an. Und dachte nach. Er versuchte es.
Nach kurzer Zeit stand er wieder auf und ging grübelnd hin und her. Dann setzte er sich wieder. Er war aufgeregt und klopfte mit seinen Fingern auf dem Tisch herum. Klopf klopf. Klopf klopf klopf. Klopf. Es qualmte. Aus der Pfeife und aus ihm heraus.
Dann stand er auf, drückte seine Pfeife aus und ging in Richtung Bibliothek.
„Morsen. Das ist ein Morsecode“, sagte er im Laufen. „Es spricht mit uns. Es ist ein lebender Telegraf!“
Hastig betrat er die Bibliothek. Er ging zur Abteilung ‚Elektrik und Elektrotechnik‘. Es ist ein Code. Das Blinzeln hat eine Struktur. Es ist, als ob man eine Taschenlampe ein und aus schaltet und dazwischen verschieden lange Abstände lässt. Kurz-lang-kurz-kurz. Kurz-kurz. Kurz-lang-kurz-kurz. Kurz-kurz. Das hatte er gesehen.
Er zog den dicken Wälzer aus dem Regal, in dem sich alle Tabellen und Umrechnungen befanden. Dann nahm er ein Stück Kreide und ging zurück ins Turmzimmer.
„Lili, ich hab‘s. Es ist ein Code. Geh bitte zum Okular und achte darauf, wie das Auge blinzelt. Wenn die Zwischenzeiten lang sind, dann sagst du ‚lang‘, wenn sie nur kurz sind, dann ‚kurz‘. Hast du das verstanden?“
Ich nickte und tat, was Ferdinand ihr sagte.
„Kurz-kurz-kurz-kurz.“, fing ich an.
Ferdinand malte mit Kreide vier Punkte an die Tafel. Dann kam kurz-lang. Punkt-Strich. Und so ging es weiter, bis die Tafel voll war.
„Du kannst aufhören“, sagte Ferdinand, „ich glaube, es wiederholt sich jetzt.“
Ich löste mein Gesicht von dem Apparat und rieb mir die Augen.
„Was sagt es denn?“
„Ich weiß es noch nicht. Warte bitte einen Moment.“
Ferdinand blätterte in dem dicken, braunen Buch hin und her und schrieb etwas in seinen Notizblock. Immer wieder schaute er zur Tafel und zurück ins Buch.
„Ich glaube, ich hab’s“, sagte er nach einer Weile.
„Da steht …“ Ferdinand Kaltenthal zögerte ein wenig, dann blickte er in sein Notizbuch und las vor.
Hallo Lili, ich bin das Auge, das dich sieht. Ich sehe die Landschaft, durch die du gehst. Die Leute, die du triffst. Wie du dich mit ihnen unterhältst. Wie du lachst. Wie du weinst und liebst. Und all das. Das alles passiert wirklich, weil ich es sehe. Deshalb existierst du.
Ich schaute noch immer die mit Strichen und Punkten verzierte Tafel an. Dann an mir herunter.
“Mach jetzt bitte nicht das Licht an, Ferdinand. Sonst sind wir weg.”
Ferdinand kritzelte schon wieder etwas in sein Notizbuch und schüttelte leicht mit dem Kopf.
“Vielleicht irrst du dich, Lili. Ich bin auch noch da. Vermute ich. Lass uns das mal überprüfen.”
Dann zog er sich ein Haar heraus.