Das große Zelt wuchs mit all seinen Stangen, Schnüren, Haken, Brettern und Bohlen langsam in den Himmel.
Fleißige Hände brachten bunte Lichter an die oberen Balken an. Viele Menschen liefen hin und her, und jeder wusste, was zu tun war.
Dazwischen irrten die Schausteller mit ihren bunten Wagen umher und versuchten hinter der halb aufgebauten Manege einen Platz zu finden. Mit ihren Fahrzeugen stießen sie in den engen Gassen, die sich gebildet hatten, vor und zurück. Und sie feilschten dabei um die besten Stellplätze.
Die Elefanten und die Kamele kamen in großen Wagen an, die von Traktoren gezogen wurden. Der Duft von Stroh und Kot mischte sich unter das Gewusel der bunten Menge.
Und als ob all das noch nicht reichen würde, um die Sinne der Neugierigen und Schaulustigen zu überwältigen, wurde dieses emsige Treiben begleitet vom zackigen Marsch einer Kapelle und dem ewigen Walzer eines Leierkastens, die Schulter an Schulter die Leute wie die Treiber einer aus dem Ruder gelaufenen Jagdgesellschaft mit ihren lauten Rufen über den Vorplatz hin zu den Zirkuskassen trieben.
Ich lief die Straße hinunter und konnte es kaum erwarten, die Manege zu sehen und mich von dem wilden und bunten Treiben in eine andere Welt entführen zu lassen.
„Peng.“ — machte es neben mir. „Peng peng peng.“
Ein kleiner Junge zielte mit seiner Spielzeugpistole auf einen riesigen Mann in einem dunklen Ledermantel, der direkt neben uns den Leierkasten bediente.
„Benny, lass das! Komm schon! Du wolltest dir doch die Tiger und die Clowns ansehen!“
Eine rundlichen Frau zupfte dem frechen Kerl am Ärmel und zog ihn ungeduldig weiter.
Der Leierkastenmann, den Ben eben noch abgeschossen hatte, nickte der Mutter nur freundlich zu, lehnte sich dann wieder in die Kurbel und versuchte gegen die Blaskapelle anzuspielen, die neben ihm auf einer kleinen Bühne gerade den Egerländer Fuhrmannsmarsch aufführte.
Mit seiner großen Gestalt ragte er wie ein Kirchturm über die Köpfe der zusammengewürfelten Menge hinweg. Er versuchte freundlich zu lächeln, und er nickte den Leuten zu, wenn sie ihr Kleingeld in die blecherne Dose warfen, die er vor sich auf dem Kasten platziert hatte.
Ich ließ mich weiter treiben. Am Eingang kaufte ich mir dann eine Eintrittskarte. In die Tierschau. Dort streichelte ich die Pferde, versuchte dem Esel bei den Ohren zu fassen und stand ehrfürchtig vor den Käfigen der Tiger.
Ich schaute zu, wie sich ein Elefant auf der Wiese entleerte. Und wie das kleine Hängebauchschwein, das in der Vorstellung nicht mitspielen durfte, im Schatten vor sich hin döste. Es schien gerade seinen Schönheitsschlaf abzuhalten.
Ich stieß mich von Zaun ab, um den anderen Besuchern Platz zu machen und wollte gerade zur Kasse zurück gehen, da wurde ich fast umgerempelt.
Ein großer Mann mit einem Hut, unter dem seine langen, lockigen Haare hervorquollen, und einem schwarz-braunen Mantel, der ihm fast bis auf die Füße reichte, schritt hastig an mir vorbei.
Ich war ihm eben schon einmal begegnet. Auf dem Vorplatz. Der Leierkastenmann. Er blickte sich nur kurz um, grummelte etwas und lief dann mit großen Schritten weiter zu einem in der Nähe stehenden Wagen.
Eine Tür an der Giebelseite war über drei hohe Stufen zu erreichen. Ohne mir weitere Aufmerksamkeit zu schenken, erklomm er die Stufen und war gleich darauf im Inneren des Wagens verschwunden.
Noch etwas benommen von der Rempelei lief ich ihm hinterher. Ich schaffte es nicht, ihn einzuholen, und stand vor der geschlossenen Tür.
Ein weißes Schild war daran befestigt. Auf dem stand mit großen Buchstaben:
Rollo Wolkenschieber
Prophet
Bitte 3 x klopfen
Ich zögerte kurz, aber dann tat ich es. „Einen kleinen Moment bitte!“, ertönte es aus dem Inneren. Nach einer Weile ging die Tür auf und der Mann stand mit einem lächelnden Gesicht vor mir und blickte auf mich herab.
Den Hut, den Mantel und die Stiefel hatte er abgelegt. Er trug jetzt weite, freundliche, helle Gewänder und hielt eine Brille mit rotem Rahmen in der Hand.
„Sie wünschen, meine junge Dame?“
„Sie haben mich fast umgestoßen!“
„Oh. Ach du meine Güte! Das tut mir sehr leid. Das habe ich gar nicht bemerkt. Hast du dir denn etwa weh getan?“
„Ich? Mir? Nein! Aber ich finde schon, dass Sie sich wenigstens entschuldigen sollten!“
„Ja. Das stimmt. Natürlich. Ich habe es, wie ich schon sagte, gar nicht bemerkt. Also Entschuldigung.“
„Schon gut.“
„Ich heiße übrigens Rollo. Rollo Wolkenschieber.“
„Hab ich gelesen. Ich heiße Lili. Lili Strich. Sie sind ein Prophet, steht hier?“
„Ja, ganz genau!“
„Gibt es denn überhaupt noch Propheten? Oder spielen Sie das nur in der Manege?“
„Ich bitte dich, wo denkst du hin? Natürlich gibt es noch Propheten! Sogar echte! Und sonst spiele ich hier nur den Leierkasten und kümmer mich ein wenig um die Tiere. In der Manege bin ich nicht engagiert.“
„Was machen Sie denn dann? Als Prophet meine ich?“
„Nun ja, ein Prophet verkündet eine Botschaft, die er von einer höheren Macht empfangen hat. Früher, als die Leute noch alle dasselbe glaubten, gab es sozusagen einen Propheten für alle. Heute glaubt ja jeder an etwas anderes. Daher braucht es auch die verschiedensten Propheten. Da kommt man mit einem nicht mehr aus.“
„Und welcher sind Sie?“
„Willst du nicht rein kommen?“
Rollo setzte sein breitestes Lächeln auf, steckte sich die Brille hoch in sein langes Haar und trat ein wenig beiseite.
„Willkommen im Reiche des Propheten!“
Zögernd stieg ich die Stufen hinauf und betrat dann den hölzernen Wagen. Dort roch es nach Salbei und Fichtenharz. Der Rauch brannte mir ein wenig in den Augen. Ich blickte mich um und versuchte zu ergründen, wo der Geruch her kam.
„Das Rauchwerk fördert die Intuition. Die Intuition kann weitaus mehr erfassen als der Verstand. Sie ist mit den tiefsten Schichten unseres Seins verbunden.“
„Achso“, sagte ich kurz und setzte mich ohne zu fragen auf einen der Sessel, die um einen kleinen, flachen Tisch gruppiert waren. Rollo schloss die Tür, nickte mir lächelnd zu und trat an den Küchenschrank, der sich gleich gegenüber der Sitzgruppe befand. Er öffnete ein Türchen.
„Kräuter oder Früchte?“
„Ohne Zimt. Und auch nicht mit Minze oder Kamille.“
Rollo nahm zwei kleine Tassen aus dem Regal
„Weißt du, du darfst nicht alles glauben, was sie dir erzählen!“
Er setzte seine Brille mit dem roten Rahmen auf seine Nase und schüttete ganz vorsichtig etwas Tee aus einer altmodischen, grünen Metalldose in ein kleines Sieb. Dann legte er es in eine der beiden Tassen.
„Wir leben hier in einer Art Matrix.“
Rollo öffnete einen Karton und zog einen Teebeutel raus. Den legte er in die andere Tasse.
„Das geht schon seit Jahrhunderten so. Mächtige, einflussreiche Familien, die niemand kennt, und die im Verborgenen die Strippen ziehen.“
Er füllte einen kleinen weiß emaillierten Topf mit Wasser und zündete mit einem Streichholz die Flamme an.
„Man muss die Welt so sehen, wie sie wirklich ist. Nicht so, wie sie uns von außen vorgegeben wird. Man muss zum Ursprung zurück und hinter den Vorhang schauen. Da sieht man, was hier so abläuft. Auch das mit den Dinosauriern ist so eine Geschichte.“
Er füllte das heiße Wasser in die beiden bereit stehenden Tassen.
“Erst neulich haben sie einen neuen Flugsaurier erfunden und einen Film drüber gedreht. Die sind ja schon so weit, dass sie den wie echt aussehen lassen können.”
Er brachte die beiden Tassen zum Tisch und stellte sie vorsichtig auf die bereit stehenden Untersetzer. Dann setzte sich Rollo in einen der freien Sessel.
„Wollen Sie etwa sagen, die Dinosaurier gab es gar nicht?“
Ich schaute in das vom langen Haar umrahmte ovale Gesicht, das von der Designerbrille genau in zwei Hälften geschnitten wurde. Oben und unten.
„Genau! Das gehört alles zur Matrix. Einfach alles. Wenn du das erstmal kapiert hast, dann wundert dich nichts mehr.“
Er lehnte sich zurück und hielt vorsichtig seine Tasse in der Hand.
„Auch die Kamele und das Hängebauchschwein?“
Mir fiel es schwer, Rollo zu folgen.
„Na die vielleicht jetzt nicht.“
Die Augen hinter den großen Gläsern gingen leicht nach oben.
„Woher wissen Sie das alles?“
Rollo stellte seine Tasse zurück auf den Untersetzer und legte beide Hände übereinander auf seine Brust.
„Man muss auf seine Intuition hören. Die tieferen Wahrheiten erkennt man nur im Innen. Das ist alles schon angelegt.“
„Kann jeder so ein Prophet werden wie Sie?“
„Ja, natürlich. Du musst nur die höhere Macht, die schon in dir steckt, sprechen lassen. Du musst auf deine innere Stimme hören und alles von dir abwehren, was von außen kommt und von der Matrix vorgegeben wird. Es gibt da auch Kristalle, die mit Abwehrenergien aus Atlantis aufgeladen sind. Die wirken wie ein Schutzschild.“
Ich nippte vorsichtig an dem noch heißen Tee. ‚Apfel und Honig‘ stand auf dem kleinen Etikett, das an einem Faden über den Tassenrand hing. Ich überlegte, ob es Apfel-und-Honig-Tee gibt, oder ob der auch zur Matrix gehörte.
Angestrengt hörte ich in mich hinein. Nichts. Nur meine Zunge brannte ein wenig von der heißen Flüssigkeit. Gehört meine Zunge schon zu meiner inneren Stimme? Dazu fiel mir nichts ein.
Dann dachte ich an Dinosaurier. An einen dicken, fetten Brontosaurus, der gierig ein Büschel Schachtelhalme in sich hinein schlang. Er kaute und schmatzte und schluckte den ganzen großen Haufen Grünzeug mit einem Male runter. Dann fuhr sein Kopf mit dem langen Hals langsam nach oben, und er schaute sich nach seiner Herde um. Neben ihm grasten noch weitere, tonnenschwere Kolosse.
Halt! O je. Ich sollte doch auf meine innere Stimme hören! Und die erzählte mir jetzt etwas von grasenden Riesenseekühen mit langen, dünnen Hälsen. Gab es die nun, oder nicht?
Rollo, der von all dem nichts bemerkte, lehnte sich entspannt zurück, lächelte mich liebenswürdig an und steckte sich seine Brille wieder hoch ins Haar.
Hinter ihm stand jetzt etwas. Ein Engel! Ein echter. Hier im Zirkus kann einem ja sonstwer über den Weg laufen. Aber der war mit Sicherheit echt. Es schillerte als hätte jemand die Festbeleuchtung angeknipst. Seine Flügel waren ausladend, und sie vibrierten noch leicht.
Der Engel stand einfach so da. Als das Vibrieren aufhörte richtete er seinen Blick auf Rollo, zog seine Stirn in Falten und donnerte los:
„Ich habe dir doch letztens schon gesagt, dass du damit aufhören sollst, die Leute mit solchem Firlefanz zu belästigen! Warum macht ihr Menschen das immer und immer wieder? Ich erzähle euch das schon seit Jahrtausenden. Nichts hat sich geändert.
Hesekiel musste ich dreimal erscheinen, bevor er endlich Ruhe gab. Und zweitausend Jahre später nannte sich dann so ein Spaßvogel ‘Nostradamus’. Wegen dem habe ich die Gicht erfinden müssen. Der wollte überhaupt nicht mehr aufhören.
Könnt ihr das nicht einfach mal lassen? Ihr pfuscht mir ins Handwerk! Ich kann doch nicht jedes Mal, wenn sich einer von euch Faselhänsen irgendeinen Zinnober einfallen lässt, meine ganzen Pläne umschmeißen! Weißt du eigentlich, wie anstrengend das ist?
Ich sage es dir, Ronny, jetzt zum letzten Mal. Sollte ich noch einmal mitbekommen, dass du dir eine Geschichte über Dinosaurier aus der Nase ziehst, dann schicke ich dir so einen dicken, fetten, hungrigen Vorfahren eines Gockelhahns direkt vor deine Schaustellerwagentür.
Und wenn du dir noch einmal einfallen lässt, dass irgendwelche eingebildeten Schwingungen auf irgendein Brimborium hindeuteten, dann wirst du bis an dein Lebensende Eintrittskarten einreisen müssen! Dann kannst du dir die Langeweile früh aufs Brot und abends wieder aufs Brot schmieren! Jeden verdammten Tag!
Und wenn du irgendwann noch einmal etwas über Intuition oder Verstand herumlabern solltest, dann bist du beides für immer los. Endgültig! Hast du das verstanden! Höre endlich auf damit! Ich möchte nicht noch einmal erscheinen! Das nervt total!“
Wie die Gestalt erschienen war, so verschwand sie auch plötzlich wieder. Sie löste sich einfach in Luft auf. Das Leuchten erlosch. Als hätte jemand den Stecker aus der Partylichterkette gezogen.
Rollo hatte sich bis jetzt nicht einen Millimeter bewegt. Er saß einfach da.
„Du heißt gar nicht ‚Rollo‘?“
„Nein. Ich heiße ‚Ronny‘. Das hat er doch gesagt. Ich heiße auch nicht ‚Wolkenschieber‘, sondern ‚Frühauf‘. ‚Ronny Frühauf‘. Wie kann man sein Kind nur ‚Ronny‘ nennen?! So heißt doch keiner! ‚Ronny Frühauf!‘ Wer hört einem denn zu, mit so einem Namen? Da kann ich mich ja gleich den ganzen Tag an die Kasse setzen.
Da will auch niemand etwas von mir wissen. Schaut mich aber wenigstens erwartungsvoll an. So ein Name muss überzeugend klingen. So wie ‚Hieronymus‘ zum Beispiel. Das wär’s gewesen!“
„Und das mit den Dinosauriern?“
„Tja, da habe ich mal was drüber gelesen. War total spannend. Stell dir mal vor, das ist alles erfunden. Wie in einem Film, richtig mit Schauspielern und so. Die drehen ständig neue Folgen. Jedes Jahr erfinden sie eine neue Art. Jetzt gibt es sogar Kinderfilme. Und kleine Spielfiguren. Dinosaurierkuscheltiere!“
„Und warum machen die das?“
„Na, um uns alle abhängig zu machen. Um uns zu kontrollieren. Was hätte das denn sonst für einen Sinn?“
„Wäre es da nicht einfacher gewesen, sich etwas mit Außerirdischen und so auszudenken? Die hinterlassen wenigstens keine Knochen. Oder Eier.“
„Außerirdische? Pah! Die sind doch schon lange da. Hier auf der Erde. Seit Millionen von Jahren. Das kommt jetzt immer mehr ans Tageslicht.“
Ronny blickte mich an und senkte dann seinen Kopf.
„Naja, vielleicht ist es auch umgekehrt. Ich bin grad einfach nicht so richtig in meiner Mitte.“
„Und was machst du jetzt, Ronny?“
Ich stand schon auf den Stufen vor der Tür.
„Was schon? Drehorgel spielen. Mich von Kindern abschießen lassen. Dem Esel frisches Wasser bringen. Aufpassen, dass sich das Schwein nicht den Bauch in der Sonne verbrennt. Und die Eintrittskarten am Eingang ins Zelt einreißen, wenn die Besucher am Abend zur letzten Vorstellung erscheinen. Und dann durchfegen.“
„Und Prophet willst du jetzt keiner mehr sein?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Was spielt das noch für eine Rolle? Ich könnte ja versuchen, den Kamelen ein paar Tricks beizubringen. Vielleicht lässt mich dann der alte Alfons auch mal in die Manege. Vors Publikum.“
Rollo versuchte zu lächeln.
„Mach‘s gut, Ronny!“
Ich stieg die Stufen hinunter und wünschte leise, dass er es schafft. Da war ich aber schon auf dem Weg zur Kasse.
Ich wollte die Manege sehen und mich von dem wilden und bunten Treiben in eine andere Welt entführen lassen.