Das Auffälligste an Rufus Milchbart ist, dass er keinen Milchbart trägt. Er heißt zwar so, mit Nachnamen, doch das bedeutet nicht, dass er einen hat. Manchmal nehmen das die Leute nicht so genau. Wie so vieles. Eines Tages zum Beispiel kam er an eine Grenze.
“Da kann ja etwas nicht in Ordnung sein!”, sagte es hinter dem Sprossenfenster des Zollhäuschens.
Der Beamte hielt seinen Passport in der Hand. Auf dem Bild war ein älterer Herr zu sehen. Mit Fältchen um den Augen und einem riesigen weißen Vollbart, der vom linken Ohr bis zum rechten Ohr reichte. Das ganze Gesicht war zugewuchert. Unter dem Bild des bärtigen Mannes stand ‘Rufus Milchbart’. ‘Milchbart’, nicht ‘Vollbart’! Da gab es überhaupt keinen Zweifel.
“Der Pass muss gefälscht sein! Sie können hier nicht weiter gehen. Tut mir leid. Die Schranke bleibt unten. Das muss ich jetzt melden!”
Rufus stöhnte und versuchte es zu erklären.
“Wenn jetzt unter dem Bild ‘Vorgesetzter’ stehen würde, dann wäre das eindeutig falsch, da ich ja gar nicht ihr Vorgesetzter bin, sondern ein Kinderbuchautor. Mit ‘Milchbart’ aber ist das ganz anders. So heiße ich nun mal, auch wenn ich schon lange keinen mehr habe. Können sie mir da folgen? Ich weiß, es ist nicht so einfach, aber vielleicht heißen Sie ja ‘Pfeife’ und sind gar keine.”
Der Beamte sah ihn ungläubig an und wirkte unentschlossen. Rufus Milchbart merkte, dass er wieder etwas gesagt hatte, was andere nicht verstehen. So geht es ihm ständig. Das strengte ihn an.
“Wie heißen SIE denn?” frage er dann.
“Obermeister Kuckuck.”
“Und, haben Sie schon einmal ‘Kuckuck’ gemacht?”
Der Beamte schüttelte leicht seinen Kopf, drückte etwas widerwillig den Dienststempel ins Dokument und hob die Schranke an. Rufus Milchbart durfte passieren.
Zu Hause angekommen bemerkte er, dass sich schon etwas Laub unter dem Wetterschenkel der Eingangstür angesammelt hatte. Der Wind hatte es von der großen Linde, die jetzt im schönsten Goldgelb glänzte, hierher geblasen. Vorsichtig schob er es mit dem Fuß beiseite. Dann trat er ein. Hier war er zu Hause. Hier in seinem kleinen Schriftstellerhäuschen am Rande von Priesenitz. Kleines Schlafzimmer. Winziges Bad. Große Wohnküche. Kein Flur. Er nannte es liebevoll seine “Hütte”.
Den Schlüssel warf Rufus in das Körbchen auf der Ablage neben der Tür. Er zog seine Schuhe aus, legte den Mantel ab, füllte Wasser in einen kleinen Pfeifkessel und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank. Er stellte sie auf den Küchentisch. Das wird sein Willkommenskaffee. Auf den hatte er sich schon die ganze Reise über gefreut. Er trank ihn heiß und türkisch. Ungefiltert. Man konnte nicht einen Vollbart tragen und dazu gefilterten Kaffee trinken. Fand er.
Da sah er den Brief. Er konnte sich nicht erinnern, dass vor seiner Reise ein Brief auf dem Tisch lag.
An Rufus Milchbart in Priesenitz, Am Steingut 3 stand vorn drauf.
Er drehte ihn um. Hinten war der Absender vermerkt.
Lili Strich, Taubenheim, Minzgässchen 10
Sein Puls schlug schneller. Hielt er tatsächlich einen Brief von Lili in den Händen? Er konnte sich gar nicht erinnern, ihr das Schreiben beigebracht zu haben. Wie war das möglich? Er war doch ihr Schöpfer!?
Rufus hatte erst spät im Leben mit dem Schreiben begonnen. Da hatte er schon lange keinen Milchbart mehr. Eines Tages wusste er nicht mehr so richtig, wer er war. Etwas in seinem Leben war ihm abhanden gekommen. Doch wie man so schön sagt, öffnet sich eine Tür, wenn sich eine andere schließt.
Rufus Milchbart war zwar nicht abergläubisch, aber hier stimmte das. Er ging durch eine Tür. Die fiel plötzlich zu. Eine Weile stand er im Flur herum und wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er lief eine Weile auf und ab und sah sich die Türschilder an. Büro für ungeklärte Anliegen, Schuldirektor Semmelholer, Bretter, Nägel, Schrauben und andere nützliche Dinge und Alois Winkelknecht. Ihr Advokat für alle Lebenslagen las er.
Und dann Lili Strich. Weiter stand nichts auf dem Schild. Kein Hinweis darauf, wer oder was diese Lili war. Rufus blieb stehen. Dann klopfte er vorsichtig an. Nichts. Noch einmal.
“Ich kann grad nicht”, hörte er.
Noch einmal. Klopfen. Er ließ nicht locker. Irgendwann ging die Tür auf und sie stand vor ihm. In einem gepunkteten Sommerkleid. Lili Strich. Plötzlich war sie da. Sie stand in der Tür und sagte “Ja bitte?” “Ja!” Und “Bitte!”
Das war gefühlt vor einem Jahr. Und jetzt das hier! Er legte den Brief wieder auf den Tisch zurück. Den Absender nach unten. Ein bisschen wunderlich war ihm schon zumute. Lili war ja nur eine Idee, ein Wort sozusagen, und er war ihr Herr Zebaoth. Was kann sie von ihm wollen?
Der Pfeifkessel pfiff. Er stellte den frisch gebrühten Kaffee vor sich hin. Dann nahm er Lilis Brief und schnitt ihn mit einem Messer vorsichtig auf. Im Umschlag befand sich ein mit einer feinen Handschrift beschriebener Bogen Papier. Das muss Lilis Handschrift sein! Rufus goss etwas Milch in den Kaffee. Dann zog er den Bogen heraus, faltete ihn auseinander und glättete ihn mit der flachen Hand auf der Tischplatte.
“Sehr geehrter Herr Milchbart,” stand da, “ich weiß nicht richtig, wie man seinen Schöpfer anspricht. Schließlich habe ich das noch nie gemacht. Vermutlich sollte ich einfach ‘Hallo!’ oder ‘Guten Tag!’ sagen. Sicher wundern Sie sich, dass ich Ihnen schreibe. Ich hatte in den letzten Tagen nicht so viel zu tun. Wahrscheinlich waren Sie gedanklich anderweitig beschäftigt. Und da habe ich begonnen, über mich und die Welt nachzudenken. Sie wissen schon. Wer ich wirklich bin? Ob es mich irgendwann nicht mehr gibt? Wo, wer oder was ich vorher war? All diese Fragen. Das erste, woran ich mich erinnern kann, war ein Pochen. Poch, poch. Poch, poch. Und dann saß ich bei Frau Dachboden auf der Gartenbank. Sie tat so, als bemerkte sie mich nicht und roch dabei etwas süßlich.”
Rufus hielt inne. Ja, stimmt. Er hatte sich die verstaubte alte Dame ausgedacht, um Lili zeigen zu können, dass sich die größten Wunder zu Hause, direkt vor ihrer Nase, abspielen. Aber wie kam Lili nur darauf, dass Dolores Dachboden ‘süßlich’ roch? Er las weiter.
“Ich war damals so naiv. Und dann Carl Schnitter. Der Sensenmann. Erst war ich stinksauer auf ihn, aber später war da so ein Gefühl. Als ob kleine Bläschen aufstiegen, wie in einem Glas mit Mineralwasser, aber schwer zu greifen. Ich wusste nicht, was ich tun soll und rannte einfach weg.”
Er schluckte. Ihm stand diese Szene immer noch vor Augen. Carl war ein interessanter Typ. Nur dass ihn niemand leiden konnte. Lili sollte das entdecken. Hatte er ihre Gefühle wirklich so genau beschrieben?
“Ich fühle mich so echt”; stand da, “Alles ist so real. Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Ich bin gereizt. Traurig. Müde. Belustigt. Freudig erstaunt. Und noch mehr dazwischen. Hier, vor mir steht eine Schüssel voll Wasser. Ich kann es berühren. Es ist kalt. Und nass. Wenn ich die Hand hinein tauche, dann spüre ich den Temperaturunterschied. Und einen leichten Druck und Auftrieb. Wie kann es denn sein, dass ich nicht ich bin? Nur das Produkt eines anderen Geistes? Ist das alles gar nicht echt? Was wird aus mir, wenn Sie mal nicht mehr da sind? Ich sitze jetzt hier und schreibe Ihnen diesen Brief. Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie sich - jetzt in diesem Moment - selber einen Brief schreiben? Wer glaubt denn sowas? Und wer glaubt das überhaupt? Vielleicht gibt es Sie ja gar nicht!?”
Rufus zog die Stirn in Falten, hob seine Tasse an und trank einen Schluck. Der Kaffee war jetzt nur noch lauwarm und schmeckte nicht so, wie er es gewohnt war.
“Lieber Herr Milchbart, bitte helfen Sie mir weiter! Geben Sie mir ein Zeichen! Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich denken soll. Herzlichst, Ihre Lili Strich.”
Für Lili war Herr Milchbart ein Gott. Sie nur etwas Ausgedachtes. Eine Idee. Ein Wort auf einem Blatt Papier. Aber war das wirklich so? Nein, das konnte nicht so sein. Ein Wort war sie nicht! Das kam gar nicht in Frage! Nur ein Wort will niemand sein!
Rufus legte den Brief wieder auf den Tisch, schob seine Tasse beiseite, zog sich die Schuhe und seinen Mantel wieder an. Er musste jetzt gleich nach Taubenheim gehen! Sofort. Zu Lili. Er musste ihr sagen, dass sie echter war als irgendjemand. Echter, als sie selbst es glaubte. Dass er ja auf sie gestoßen sei, als es sie schon gab. Dass er sich die Geschichten nicht nur aus der Nase zog. Er griff nach der Klinke und trat nach draußen.
Hui! Rufus erschrak und stolperte rückwärts ins Zimmer zurück. Da, vor seiner Tür, befand sich kein Weg mehr. Keine Wiese. Keine Linde. Und die Blätter, die er eben noch beiseite geschoben hatte, waren auch weg. Es war schwarz. Überall schwarz. Durch die Luft bewegte sich eine riesige spitzwinklige Figur aus mehreren farbigen Lichtstreifen. Die Ecke der Figur rauschte von hinten heran, wechselte ihre Farbe von grün in rot, und es sah so aus als wollte sie sich im nächsten Moment in die Wohnküche stürzen. Der Türrahmen glimmte kurz auf und dann war sie verschwunden.
Rufus schloss die Tür, so schnell er konnte. Atemlos stand er da. Was war hier plötzlich los? Jetzt sah er es auch in den Fenstern. Hinter den noch geschlossenen Gardinen blinkte es in Rot, dann in Blau, und dann in Orange. So als hätte sich draußen eine ganze Armada von verschiedenen Einsatzfahrzeugen versammelt, die lautlos mit eingeschalteten Warnlichtern da standen. Als wäre über ihm ein Großbrand ausgebrochen. Aber es gab kein ‘über ihm’! Nur die kleine Hütte, ganz am Rande des kleinen Dorfes Priesenitz. Vor dieser Hütte hätte nicht ein einziges Einsatzfahrzeug Platz gehabt.
Rufus trat an eines der Fenster und zog vorsichtig den Vorhang beiseite. Draußen war es schwarz. Die riesige Leuchtfigur bewegte sich jetzt in einem Band paralleler Linien von links oben nach rechts unten und schoss dann mit hoher Geschwindigkeit am Fenster vorbei. Es fühlte sich an, als befände er sich im Inneren eines riesigen, nostalgischen Bildschirmschoners. Wie gebannt blickte er hinaus. Es gab da nichts. Nur dieses überdimensionale Gebilde. Es waren eigentlich zwei, wie er erst jetzt bemerkte. Manchmal bekam er eines ganz in den Blick. Ein unregelmäßiges Viereck aus farbigen Linien, das aussah, als torkelte es im Raum umher und wechselte dabei seine Farben.
Plötzlich war wieder alles schwarz. Dann begann etwas zu wachsen. Weit hinten und kaum zu sehen. Es mussten Rohre sein, mit Verdickungen, an denen sie die Richtung wechselten. Mit großer Geschwindigkeit breiteten sie sich aus. Stück für Stück wucherte der Raum mit Rohren zu. Manchmal bewegten sie sich von ihm weg, und manchmal auf ihn zu. Erst weiß, dann orange, dann grün. Die Abstände zwischen den Rohren wurden immer kleiner. Es bildeten sich richtige Rohrdickichte aus. Sie krochen über ihn hinweg, unter ihm hindurch, oder direkt am Fenster vorbei.
Als es schien, dass das gesamte schwarze Weltall, in dem er sich befand, von wurmartigen Rohrleitungen durchzogen war, so dass kaum noch eine Hand irgendwo hindurch gepasst hätte, verschwand alles wieder. Wieder nur schwarz.
Jetzt fing es an zu regnen. Wie dünne Bindfäden kamen endlose Nullen und Einsen von oben herab. Die einzelnen Ziffern waren kaum zu erkennen, aber es waren nur Nullen und Einsen. Da war er sich sicher. Sie schimmerten grünlich vor dem schwarzen Hintergrund. Es gab größere und kleinere Lücken zwischen ihnen. So als ob verschieden dicke Regentropfen eine Scheibe hinunter liefen und dabei verschieden lange Spuren hinterließen. Es war ein Code, der über dem Bildschirm lief und sich endlos immer wieder neu erfand.
Rufus Milchbart zog den Vorhang wieder zu. Benommen setzte er sich an den Küchentisch. Im Sitzen zog er seine Schuhe aus und hängte seine Jacke über die Lehne des Stuhls. Er breitete ein Blatt Papier vor sich aus und nahm einen Stift zur Hand.
“Liebe Lili,” schrieb er. “weißt du, mir geht es nicht viel anders als dir. Ich denke manchmal, dass ich auch nur eine Figur in einer Geschichte bin. Vielleicht gibt es ja viel mehr als nur unsere Strichmenschenwelt. Und vielleicht gibt es dich ja wirklich, liebe Lili. Vielleicht bin ich nur eine Idee. Nur ein ‘Wort’, wie du schreibst. Genau weiß ich das jetzt nicht. Ich bin auch ein wenig ratlos. Aber wenn es dich wirklich gibt, Lili, dann bitte tue mir einen Gefallen. Geh zur Grenze und frage dort nach Obermeister Kuckuck. Ich habe dort kürzlich meinen kleinen braunen Lederkoffer stehen lassen. Gib dich bitte als meine Tochter aus und nimm ihn an dich. Bewahre ihn sicher auf, aber bitte öffne ihn nicht. Niemals. Ich denke, das Ganze hier hat etwas mit diesem Koffer zu tun. Ich hätte ihn nicht dort vergessen sollen, aber nun ist es zu spät! Ich weiß nicht, ob ich wieder von hier weg komme. Falls du Obermeister Kuckuck persönlich antriffst, dann bitte sag ihm auch, dass es mir leid tut. Er hatte recht mit seinem Zweifel. Der Bart war nicht echt. Vielleicht war auch alles andere nicht echt. Ich weiß es nicht. Ich hab dich lieb! Dein Rufus.”
Er faltete das Papier und steckte es in einen Umschlag. “Für Lili” schrieb er vorn drauf. Dann ging er zur Tür, bückte sich, und schob den Umschlag vorsichtig durch den Schlitz zwischen Tür und Fußboden. Es zischte leise, und ein kleines rotes Licht leuchtete hinter der Tür auf. Dann verschwand auch dieses. Der Weltraum hatte seine Gedanken gefressen. Vielleicht spie er sie irgendwann wieder aus. Vielleicht auch nicht. Für Rufus gab es jetzt nichts mehr zu tun.